Braunschweig. Politikwissenschaftler erklären, worüber die Türken am 16. April abstimmen.

Unsere Leserin Doris Grell aus Braunschweig fragt:

Worüber wird im Türkei-Referendum eigentlich genau abgestimmt?

Die Antwort recherchierte Carolin Wicke

Evet oder Hayir? Ja oder nein? Der Frage, ob sie Erdogans geplanten Verfassungsänderungen zustimmen sollen, stellen sich jetzt Millionen Türken in Deutschland und der Türkei. Aber worum geht es bei dem Referendum eigentlich genau?

Das Referendum umfasst eine ganze Handvoll Änderungen gleichzeitig. „Ziel der Reform ist, die Exekutive, also die ausführende Gewalt neu zu organisieren“, erklärt Rechtsprofessor Christian Rumpf von der Universität Bamberg. „Die Regierung soll nur noch aus dem Präsidenten bestehen. Das bisherige Amt des Ministerpräsidenten entfällt und auch die Minister verlieren ihre Entscheidungsmacht.“ Das Referendum sehe vor, dass Entscheidungen nicht mehr im Kabinett getroffen werden. „Die Minister warten nur noch darauf, dass der Präsident die Befehle erteilt.“

Doch damit nicht genug. Der Präsident soll laut Rumpf außerdem einer Partei vorsitzen dürfen: „Damit verschwindet die bisherige Neutralität des Präsidenten. Er wird zu einer politischen Figur.“ Das habe in der Türkei besonders starke Auswirkungen. „Türkische Parteien sind stark auf einen mächtigen Parteivorsitzenden zugeschnitten und weisen wenig demokratische Strukturen auf“, so Rumpf. „Der Präsident hätte als auch die Partei unter Kontrolle.“

Zum Machtgefüge zwischen Präsidentenpalast und Parlament drängt sich allgemein natürlich der Vergleich mit dem Paradebeispiel einer präsidentiellen Demokratie auf: den USA. Sara Ceyhan von der Goethe-Universität Frankfurt sieht trotz einiger Gemeinsamkeiten auch entscheidende Unterschiede zu den türkischen Perspektiven. „Die Türkei ist, anders als die USA, sehr zentralistisch organisiert“, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Der Föderalismus in den USA sorgt dafür, dass die Abgeordneten nach dem Willen ihrer Wahlregion entscheiden, um wiedergewählt zu werden. Es herrscht nur sehr schwacher Fraktionszwang.“ In der Türkei werde hingegen stark mit der Partei gestimmt. „Hinzu kommt, dass der Präsident seit langem auf eine stabile Mehrheit im Parlament bauen kann“, erklärt Ceyhan. Das kann zwar auch in den USA vorkommen – wie derzeit unter Donald Trump –, gestaltet sich laut Rumpf dort allerdings eher schwierig, da sich der US-Kongress aus zwei Kammern mit verschiedenen Wahlzyklen zusammensetzt. „Sind die Mehrheiten im Senat und im Repräsentantenhaus unterschiedlich, erschwert dies das ,Durchregieren‘ maßgeblich“, sagt Rumpf.

Letzte Bastion: Verfassungsrichter

Ein Kontrollorgan, das so oder so wichtig bleiben würde, dürfte das Verfassungsgericht sein. Auch Minderheiten im Parlament könnten dort nicht nur gegen Gesetze, sondern auch gegen Präsidialverordnungen Klage einreichen. „Allerdings findet in der Türkei eine Entwicklung hin zu mehr Kontrolle der Justiz durch politische Instanzen statt“, wie Rumpf sagt. Das bestätigt Sara Ceyhan: „In jüngerer Zeit gab es viele Versuche der Regierung, stärkeren Einfluss auf die Justiz zu nehmen. Da der Präsident Richter des Verfassungsgerichts ernennt, hat er die Möglichkeit, das Gericht nach seinem Belieben zu prägen.“

Das Änderungsbündel umfasst laut Rumpf jedoch noch weitere Aspekte: die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit und die Herabsetzung des passiven Wahlrechts auf 18 Jahre. „Diese Punkte sehe ich positiv“, sagt Rumpf. „Zivile Strafgerichtsbarkeit für Militärpersonal haben wir in Deutschland auch. Und ob das Wahlrecht herabgesetzt werden sollte, ist immer Ansichtssache.“

Dass die gesamte Entwicklung im historischen Kontext zu sehen ist, betont Professor Peter Palewka von der Uni Tübingen: „Derzeit wird die ganze Entwicklung auf Erdogan bezogen. Die Türkei hatte aber schon immer autoritäre Züge. Derzeit, wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, bricht den Türken ihr Staat unter ihren Händen zusammen. Diese Angst vor Zerfall hat sich jahrzehntelang zementiert.“